Über eigene Grenzen gehen

Es gibt Menschen, die sind schwindelfrei – haben keine Furcht vor Höhen. Ich bewundere Dachdecker, Schornsteinfeger oder Bergsteiger. Klettern diese  auf Dächern herum oder hängen an Klippen. Wenn ich sowas auch nur im TV sehe, finde ich manches gruselig und muss, wenn es zu arg gefilmt wurde, wegsehen. Da gibt es einen Film, wo ein Mann zwischen zwei Hochhäusern auf einem Drahtseil balanciert. Das ist für mich ein Albtraum – ich sah wohl nur die Hälfte davon im Kino. Diese Artisten sind eindeutig schwindelfrei – sie sind eben so. 

Wurden sie so geboren oder ist liegt es an frühkindlicher Prägung? Warum kann das die / der eine und die / der andere nicht? Steckt so eine Superkraft bereits in den Genen? Zu mir selbst denke ich – es gibt Schlimmeres. Ich habe zwar eine gewisse Höhenangst, jedoch kann ich durchaus auf eine Leiter steigen oder in einen Apfelbaum klettern.

 

Eine gute Tierpension kann jeden Hund betreuen.

 

Da gibt es eine ärgerliche Eigenschaft von mir, die es mir erschwerte, verletzte Tiere zu betreuen – und das ist: Ich habe Probleme damit, großflächige Wunden zu behandeln. Positiv ist: Ich kann Blut sehen (falle nicht gleich in Ohnmacht), kann gut mit Hunden umgehen und bleibe auch in extremeren Situationen ruhig. Vorab: Ich betreute, trotz meiner negativen Eigenschaft, auch immer wieder Mal arg verletzte Hunde. Mein Motto war immer: „Eine gute Tierpension kann jeden Hund betreuen.“

 

Der Anruf eines Tierarztes ist mir in guter Erinnerung: Da war eine ältere Frau, die im 2. Stock ohne Lift lebte. Diese hätte eine größere Hündin, welche von ihm behandelte Biss-Verletzungen an einer Pfote und am Rücken hatte. Die Besitzerin könnte die vielen Stufen selbst schwer gehen und mit u. a. auch gehbehindertem Hund schon gar nicht. Die Besitzerin selbst wäre nicht fähig, diese Wunden zu behandeln, da ihr dabei schlecht wurde und sie sich fürchtete, was falsch zu machen.

 

Ob wir unsere ebenerdige Krankenstation frei hätten und das ca. 30 Kilo schwere Weibchen aufnehmen könnten? Die Verletzungen müssten täglich gereinigt und behandelt werden. Der Tierarzt hätte nicht die Möglichkeit, diese Hündin bei sich zu lassen. Medikamente würden mitgegeben werden und nach geschätzten 10 Tagen könne die Hündin auch wieder retour zu der Tierhalterin. OK, wir hatten Platz  – Tierpension mit Einzelhaltung in der Krankenstation. Ich halte Rudeltiere überhaupt nicht gerne einzeln und mir war auch immer wichtig, dass das Seelchen keinen Schaden nimmt. So verbrachte ich oft viel Zeit in der Krankenstation oder Quarantäne und holte mir betreffende Tierchen, wenn irgendwie möglich, auch immer mal in meinen eher privaten Bereich oder ins Büro.

 

NORA wurde von der Besitzerin selbst gebracht und war eine brave, etwas dickliche, Mischlingshündin. Um ein Pfötchen war eine Bandage gelegt und der betroffene Rücken großflächig auf Durchmesser ca. 40 cm ausrasiert. Man sah zwei mittelgroße Wunden am Rücken (Biss und Gegenbiss) – am Pfötchen sah man durch den Verband nichts. Es sah auf den ersten Blick nicht so dramatisch, wie befürchtet, aus. Die Vorgabe seitens des Tierarztes war: Tägliche Tablettengabe, alle 2 Tage Verbandswechsel beim Pfötchen und täglich 3 x Wunden am Rücken reinigen und versorgen.

Verbandswechsel und kleinere Wunden versorgen sind keine große Herausforderung und so startete ich entspannt, am drauffolgenden Tag, meinen medizinischen Spezialauftrag.  Die ersten beiden Tage verliefen problemlos – das Pfötchen sah gar nicht so schlimm aus und konnte NORA bereits nach drei Tagen wieder aufsteigen. Sie humpelte zwar, aber es war anzunehmen, dass das von Tag zu Tag besser werden würde. Da tat es denn auch.

 

15 cm große Wunde

 

Ich konzentriere mich in diesem Kapitel daher nun auf NORA´s Rückenverletzung. Diese wurde, trotz meiner exakten Behandlung, immer schlimmer und es begann sich ein Teil des Fells abzulösen. Damit meine Leser sich das vorstellen können: Biss und Gegenbiss …. alles was dazwischenlag löste sich ab bzw. entfernte ich dann die letzten Centimeter – sodass eine großflächige, eiterige, offene, fast kreisrunde Wunde mit ca. 15 cm Durchmesser zu versorgen war. Natürlich hielt ich Rücksprache mit dem behandelnden Tierarzt, der meinte: „Sowas kann passieren, er hätte auch damit gerechnet und sollen wir nun sehen, dass es – mit seiner mitgegebenen Medikamente - heilt.“ Solche fordernden Aufträge waren früher immer „Chef-Sache“. Keinem ungelernten Mitarbeiter hätte ich „meine“ NORA anvertraut bzw. hatten diese wohl schlechtere Nerven und weniger Übung als ich.

 

Ich versuche so realitätsnah als möglich meine Unzulänglichkeit zu beschreiben: Es beginnt, nach zwei Minuten Behandlungsdauer (man kann die Uhr danach stellen) , dass mir regelrecht „schwarz“ vor Augen wird. Es fängt von unten nach oben an, dass ich nur noch „pechschwarz“ sehe. Wenn ich nur noch die Hälfte sehe (halb-blind bin) – dann MUSS ich raus aus dieser Situation – sonst liege ich ohnmächtig da. Das passierte bereits drei Mal. Ich kann nichts dagegen machen – gar nichts. Da hilft auch keine Übung, sich mehr mit dem Thema beschäftigen oder Filme sehen. Würde ich nicht stoppen, würde ich umfallen. Ein Psychiater hätte seine wahre Freude an mir ….

 

Ungewollte Mimose

 

Mich ärgert es, so eine Mimose zu sein. Ich versuche bis heute zu hinterfragen, warum das so ist. Warum kann die / der eine und die / der andere nicht ? Grade als Leiterin einer Tierpension hätte man das können sollen. Wie schon oben geschrieben habe ich auch immer solche Jobs gemacht – bin auch manchmal sinnfrei über meine Grenzen gegangen. Ich habe aber, weil es keinem was nutzt, während länger dauernden Behandlungen pausiert. Mich hinzusetzen, wenn es wieder „schwarz“ wurde, – 5 Minuten warten und dann wieder 2 Minuten weitermachen wurde Usus. Ich lernte mit meinem Manko zu leben. In einem ärztlichen Beruf wäre ich wohl völlig ungeeignet gewesen.

 

Auf den Punkt gebracht würde ich das Gefühl so beschreiben: Ich will niemandem Schmerzen zufügen. In Erinnerung ist mir auch eine Begebenheit, die mich selbst betrifft. Während der Schwangerschaft hatte ich mal eine Hämorrhoide. Da diese extrem (!) schmerzhaft war, besuchte ich in die Ambulanz des Krankenhauses. Selbst ein leichter Luftstoss tat höllisch weh – geschweige denn eine Berührung. Der kompetente Arzt besah dieses Problem und – völlig ohne Narkose - wurde mit Skalpell aufgeschnitten. Mir liefen, vor Schmerz, die Tränen über das Gesicht. Nach kurzer Zeit war es gut. Es tat nicht mehr so weh. Der Arzt hatte einen ausgezeichneten Job gemacht. Alles heilte und wurde wieder körperlich gut. Seelisch plagte ich mich aber.

 

Mich beschäftigt die Behandlung immer noch. Nicht die eigentliche damalige Erkrankung, sondern verschiedenste Gedanken dazu. Wie konnte der Arzt nur (ohne dabei umzufallen) ? Wie kann man in etwas Hineinscheiden, was dermaßen weh tut ? Wie kann man dem armen leidenden, ängstlichen, weinenden Wesen hier noch mehr weh tun ? Nicht die eigentliche Erkrankung, welche dann schnell verschwand, war für mich das Thema, sondern: Wie konnte es dieser Mediziner über´s Herz bringen ? Wie kann man jemandem solche Schmerzen zufügen ? Ich würde vorher ohnmächtig werden …..

 

Man will nur helfen

 

Mein Verstand sagt mir natürlich, dass ein Arzt dem Menschen nur helfen möchte. Mein Verstand sagt mir auch, dass ich Gutes tat und einem Tierchen half. Und doch würde ich bei längerer Dauer in Ohnmacht fallen. Eine wirklich ärgerliche Eigenschaft, die man weder erziehen noch (v)erlernen kann.

 

Linda Ann Pieper