Der Wert eines Lebens

Einen Preis für ein Vergabetier festzulegen war für mich immer eine unliebsame Aufgabe. Wie kann man Lebewesen in Zahlen bewerten? Meistens orientierte ich mich, bei der Preisgestaltung, an den Verkaufsportalen im Internet. Auds den dortigen Infos bastelte ich einen „Tierschutz-Kaufpreis“, der mindestens 20 % niedriger als der Durchschnitt lag und nie vierstellig war. Als Beispiel: Ein reinrassiger Malteser-Welpe kostete im Netz zwischen € 1.500,00 und € 2.500,00. Bei uns kostete er demnach nur maximal € 990,00. 

Obwohl meine Kaufpreise niedrig waren, meinten manche Interessenten trotzdem: „Warum ist der Hund so teuer? Um € 400,00 würden wir ihn nehmen. Das hat ja nichts mit Tierschutz zu tun. Es geht euch ja nur ums Geld.“  Waren es notorische Nörgler und Händler, die grundsätzlich immer "handeln" möchten? Diese Typen gibt es tatsächlich. Gegen solche Gesprächspartner war ich im Laufe der Zeit abgestumpft und trotzdem nervten sie. Ich versuchte den Kritikern zu erklären, warum bei manchen Hunden höhere Preise angesetzt werden mussten. Ich war in der glücklichen Lage, dass es mir finanziell gut ging und es daher bei mir im Tierschutz tatsächlich nicht vorrangig „ums Geld ging“. Das Tier sollte nicht billig gekauft, um dann teuer weiterverkauft zu werden. Ich suchte immer ein fixes neues Zuhause. Deswegen recherchierten und korrespondierten wir mit Interessenten teurer Hunde vermehrt. Bei der Tiervergabe waren solche „Rosinen“ natürlich die Seltenheit. Die meisten Abgabetiere waren ältere, größere und/oder unerzogene Mischlinge, die um € 390,00 „gehandelt“ wurden.

 

Die Preisgestaltung bei reinrassigen Hunden machte ich deswegen so ungern, weil gefühlsmäßig für mich jedes Tier den gleichen Wert hatte. Manch ein reinrassiger Hund mit erstklassiger Ahnentafel war im Grunde weniger "wert" als ein geliebter Mix, der unbezahlbar war. Ein, nicht dem Schönheitsideal entsprechender, Hund konnte einen sehr lieben Charakter haben. Was ist wirklich WAS Wert?  Die wahren Werte im Leben, wie Gesundheit, Liebe, Treue oder Freundschaft kann man nicht kaufen. Ein sehr spezieller Dalmatiner-Hilfseinsatz stimmte mich besonders nachdenklich und möchte ich gerne schildern. 

 

Aufnahme von acht Junghunden

 

Ein völlig verzweifelter, älterer Herr meldete sich telefonisch: "Ich hatte eine schwere Operation und bin grade aus dem Krankenhaus gekommen. Mein Sohn hätte die acht Dalmatiner Welpen während dessen verkaufen sollen. Um Himmels willen - sie sind alle noch da. Sie sind bereits 16 Wochen alt und es gibt noch nicht mal einen einzigen Interessenten. Oh mein Gott - was soll ich bloß tun? Sie fressen mir die "Haare vom Kopf"! Mein Sohn und ich haben deshalb gestern gestritten und nun will er die Hunde gar nicht mehr betreuen. Gesundheitlich bin ich noch nicht gut drauf. Ich kann mich nicht mal bücken und tue mich schwer die vielen Hunde zu verpflegen. Könnt ihr sie aufnehmen? Bitte ...!!! " Ich hatte ein Zimmer frei und sagte die Aufnahme zu.

 

So lieblich gewisse Disney-Filme anzusehen waren, war die Haltung von mehreren Welpen in der Praxis nicht ganz so rosa-rot. Die Kino-Renner machten Dalmatiner zum Modehund. Da diese Rasse gut verkäuflich war, wurde dementsprechend viel gezüchtet. Acht großwüchsige Junghunde zu beherbergen, bedeutete nicht nur "Futterchen - Wasserchen - Sauberkeit" zu gewährleisten, sondern war auch die positive Prägung extrem wichtig. Junghunde waren oft noch nicht stubenrein, hatten nadelscharfe Milchzähne und trieben mehr Unsinn als erwachsene Hunde. In weiterer Folge mussten schöne Zuhause gefunden werden. Ich war mir darüber klar, dass so eine Aufnahme eine Menge zeitintensiver Arbeit bedeutete.

 

Dalmatiner Invasion 

 

Ein Pferdeanhänger, gefüllt mit Stroh und Junghunden, fuhr auf meine Anlage. Die Klappe wurde geöffnet und ich wurde von den ganzen Flecken regelrecht geblendet. Acht Augenpaare zwischen den ganzen Punkten. Im Grunde, da fast alle Augen dunkel waren, ergab das Bild hunderte von Punkten auf weiß. Alle Augen blickten natürlich zu der, sich öffnenden Klappe. Ach Gottchen - wie niedlich. Wir hätten, mit dieser Schar, durchaus in einen der berühmten Filme gepasst.

 

Ein Hundchen war hübscher als das andere und die Herzen der Tierbetreuer gingen auf. Wir trugen sie der Reihe nach in das vorbereitete Gehege und ließen sie dort laufen. Nach der langen Fahrt im Pferdeanhänger und den vielen neuen Eindrücken, durften sie sich austoben. Wasser und Futter wurden gereicht und natürlich hatte ich viel gestreichelt und Leckerchen verteilt. Dann kamen sie zur Ruhe und lagen – wie das Welpen gerne machen - alle auf einem schwarz-weißen Haufen.

 

Wie sollen wir sie vergeben?

 

Mir kamen Gedanken zur Vergabe der jungen Dalmatiner. Wie sollte man sie auseinanderhalten? Wie sollten wir fotografieren und filmen? Wie, welche Namen geben? Sie sahen alle irgendwie gleich aus und waren doch punktemäßig völlig verschieden. Die Methode, ihnen verschiedenfärbige Halsbänder anzulegen, würde bei verspielten zahnenden Junghunden ganz bestimmt nicht funktionieren. Das Besprühen des Fells mit Farbe oder Ausrasieren an verschiedenen Körperstellen ging gegen mein tierliebes Wesen. Deswegen wollte ich das nicht.

 

So entschied ich mich dazu, das gepunktete Rudel in der Gruppe zu fotografieren / filmen und nach dem Motto "Jeder sucht sich seines vor Ort aus" zu vergeben. Bei Reservierungen aus der Ferne ermöglichten wir zwischen Weibchen und Männchen zu wählen. Die Interessenten zeigten - nach oft recht lustigen Telefonaten mit Beschreibung der „gefleckten“ Lage - großes Verständnis. Es war schier unmöglich, die immer munterer werdenden, Bandenmitglieder auseinander zu halten. 

 

Bei einer größeren Anzahl von Welpen schlugen wir gerne mehrere "Fliegen mit einer Klappe". 1.) Die neuen Besitzer durften sich alleine direkt im Junghunde-Rudel ihr neues Familienmitglied in Ruhe auswählen. 2.) Für die Junghunde war es für die Prägung fein auf andere Menschen, als nur die Tierbetreuer, zu treffen. 3.) Nachdem die Rasselbande ein hohes "Aktivitäts-Level" hatte, waren sie nach solchen Besuchen endlich auch mal müde und ruhiger.

 

Neue Eigentümer wurden gefunden

 

Die ersten Interessenten kamen. Ich verstand, dass die Käufer mit den ganzen Punkten überfordert waren. Wie sollte man sich denn einen Hund aussuchen? Einer war hübscher als der andere und charakterlich waren sie fast ident. Nachdem die vierköpfige Familie nach einer halben Stunde immer noch ratlos waren und jeder einen anderen Dalmatiner in der engeren Wahl hatte, kamen sie zu dem Entschluss: „Die/Der Erste, die/der kommt, wenn wir rufen – die/den nehmen wir.“  Mein Team hielt die Gruppe zurück. Die Interessenten gingen ans andere Ende der Anlage und riefen: „KOMM!“ Somit verließ als erster Hund, der wilde PABLO, das Haus und zog in ein wunderbares Heim mit Swimmingpool.

 

Die zweite, die umziehen durfte, hieß PADDIE. Das Auswählen des neuen Familienmitglieds verlief ähnlich. Interessenten des "P-Wurfes" (sie hießen karteimäßig von PAULA über PLUTO bis hin zu PEPPER) suchten sich ihres aus. Nach und nach zogen die Junghunde in schöne Heime. Nach einer Woche waren nur noch vier der Dalmatiner-Junghunde in der Vergabe und wir erhielten bereits erste liebe bebilderte Rückmeldungen vom jeweiligen neuen Zuhause.

 

PADDIE ist taub!

 

Auch die Familie, die PADDIE mitgenommen hatte, meldete sich nach einer Woche telefonisch: "PADDIE ist sehr lieb und zugänglich, frisst brav, folgt schön, ist nachts ruhig, kann auch einige Minuten alleine bleiben, macht nichts kaputt. Wir haben uns gefreut, dass sie völlig stubenrein ist. Aber uns kommt vor, dass sie schlecht hört. Ist euch da etwas aufgefallen?" Meine erste humorvolle Reaktion war: "Kann oder will sie nicht hören?"

 

Nicht im Traum wäre mir eingefallen, dass PADDIE schlecht hört. War sie doch bei unserem Spielen eine der ersten des Rudels, die durch die Klappen gehen konnte. Sie war völlig unauffällig. PADDIE kam immer mit dem Rudel, wenn man alle anlockte. Wir riefen natürlich nicht jeden mit einzelnem Karteinamen, sondern die Gruppe hieß „WÖLFI“, demnach reagierten sie auf das Kommando: „Wölfi´s kommt !“. Alle Hunde konnten am Steg klettern und durch Höhlen kriechen. Eine, die besonders flott beim Füttern war, war PADDIE.

 

Ich wurde ernsthafter und empfahl den Besitzern von PADDIE, das Hören doch dringend zu testen. Natürlich würde ich PADDIE, sollte sie taub sein, zurücknehmen. Den Kaufpreis würde ich in voller Höhe zurückbezahlen oder die Kleine gegen einen anderen unserer verbliebenen Welpen tauschen.

 

Wir nehmen sie zurück

 

PADDIE war leider tatsächlich taub. Es tat der Familie sehr leid, sie wieder zurückzugeben - jedoch konnte sich die fünfköpfige Familie nicht vorstellen, wie das Zusammenleben mit einem gehörlosen Hund funktionieren sollte. Sie entschieden sich, einen anderen der Dalmatiner zu nehmen. Gleich nach dem Anruf, hatte ich alle der verbliebenen Dalmatiner getestet. Mit jedem wurde einzeln minutenlang gepfiffen, gesäuselt, gesprochen und geknistert. Sie konnten alle gut hören.

 

Normaler Weise nervte ich keine Käufer von meinen Schützlingen, obwohl es mich manchmal in den Fingern juckte. Gerne hätte ich telefoniert oder geschrieben: "Wie geht es euch denn?" Das Tier war aber nun ihr Eigentum. Bei jeder Abgabe bat ich "irgendwann" um eine kurze Rückmeldung. Das war aber kein Muss, sondern freiwillig. Die meisten Käufer sendeten uns Kurze Texte und Fotos und ich freute mich immer sehr darüber.

 

Entgegen meiner Natur, telefonierte ich mit allen anderen Dalmatiner-Käufern: “Bitte testet, ob euer Hund hört“. Auch dort war alles OK. Es hätte wenig Sinn gemacht, den Züchter deswegen anzurufen, da dieser die Welpen nur kurz nach der Geburt und dann zwei Tage bei sich hatte. Da mir nichts aufgefallen war, wäre ihm sicher auch nichts aufgefallen. Geruchs- und Tastsinn waren bei gehörlosen Hunden meistens ausgeprägter, sodass man in der Gruppe keinen Unterschied am Verhalten sah.

 

Wie sollte es weiter gehen?

 

Wer kauft schon einen gehörlosen Hund? PADDIE wurde einzeln fotografiert, gefilmt und genau beschrieben. Schon in der Überschrift der Anzeige wurde "gehörlos" vermerkt und der geringste Kaufpreis angesetzt. Das waren damals öS 100,00 und entspricht dem heutigen niedrigsten Kaufpreis bei Hunden von € 50,00. Ich hatte kaum Hoffnung, dass sich für PADDIE jemand melden würde. Hätte sich niemand gefunden, hätten wir sie wohl als eigene Hündin behalten.

 

Wenige Tage nach Veröffentlichung der Anzeige im Internet, meldete sich telefonisch eine freundliche ältere Dame. Sie hätte immer schon Hunde gehabt, ihr letztes Hundchen wäre kürzlich in hohem Alter verstorben. Sie hätte gerne PADDIE. Ich teilte intensiv mit, dass PADDIE absolut nichts hört und was das Zusammenleben mit einem tauben Hund für Herausforderungen mit sich bringen kann. Wir hätten auch noch zwei hörende Junghunde aus dem gleichen Wurf hier. Die Dame meinte, sie hätte auch das andere Inserat mit den nicht behinderten Hunden gesehen und blieb dabei: „Nein, die anderen kommen nicht in Frage – ich möchte PADDIE.“

 

Der volle Kaufpreis

 

Eine sehr sympathische Frau, so um die 60, erschien pünktlich zum Abholtermin. PADDIE war begeistert, als sich die Dame zu ihr auf den Boden setzte, sie Leckerchen bekam und gestreichelt wurde. Nochmals sprach ich über die Gehörlosigkeit. Die Frau meinte: „Selbstverständlich möchte ich PADDIE gleich mitnehmen.“  Ich freute mich. Es passierte ganz selten, dass jemand ein behindertes Tier nimmt. 

 

Ich holte (wie immer bei Verkäufen) mein Chip-Lesegerät, die Unterlagen vom Hund sowie ein kleines Säckchen vom gewohnten Trockenfutter. Inzwischen konnte die Käuferin den Kaufvertrag durchlesen und den Impfausweis ansehen. Ich notierte vorschriftsmäßig die Ausweisdaten der neuen Besitzerin. Das mitgebrachte Halsbändchen wurde angelegt. Ich bat die Käuferin den Kaufvertrag zu unterschreiben und den Kaufpreis in Höhe von öS 50,00 zu bezahlen. Sie unterschrieb und legte öS 700,00 auf den Tisch.

 

Freundlich teilte ich der Frau mit, dass sie sich wohl getäuscht hätte. Die anderen Junghunde (ohne Behinderung) kosteten öS 690,00. Bei der gehörlosen PADDIE hatten wir einen wesentlich niedrigeren Preis, nämlich nur öS 50,00, vereinbart. Die Diskussion, die dann folgte, hat mich mein weiteres Leben begleitet. Sie wollte den vollen Kaufpreis bezahlen. PADDIE war genau so viel Wert, wie jeder andere Hund. Ich solle die öS 700,00 annehmen und sie wollte kein Retourgeld. Das Wechselgeld, in Höhe von öS 10,00, wäre für unsere Kaffeekasse.

 

Wir diskutierten

 

Ich hatte nicht mit dieser Reaktion gerechnet und war erst sprachlos. Meist versuchten Kunden Rabatte zu bekommen. Dass jemand freiwillig unbedingt mehr bezahlen wollte, war absolut ungewöhnlich. Auch hatten wir den Preis von PADDIE deswegen so reduziert, damit vielleicht irgendjemand Interesse hat, der vielleicht weniger Geld, aber dafür ein großes Herz hat.  

 

Nochmals versuchte ich das Gespräch in die (für mich) richtigeren Bahnen zu lenken: Ich erklärte, dass ein tauber Hund mehr Aufwand bedeutet, als ein hörender Hund. Inzwischen saß PADDIE auf ihrem Schoß. Die Kaufpreisreduktion wäre doch gerechtfertigt. Wir gingen ins Detail. Sie erzählte mir einiges aus Ihrem Leben und dass ihr verstorbener Mann gehbehindert gewesen wäre. Zum Ende hin half bei ihrem Ehemann auch kein Hörgerät mehr etwas und war er taub geworden. Der Wert, den dieser Mensch für sie gehabt hatte, wäre nicht zu beziffern gewesen. Sie beharrte darauf, für PADDIE den vollen Kaufpreis - der vierzehn Mal höher war - zu zahlen. Wir blieben befreundet und zeigte sich diese Frau, auch in anderen Bereichen, als ein wirklich "wert-voller" Mensch.