Lieber wäre sie verhungert

Auch nach vielen Jahren intensiver Hundebetreuung passierte es manchmal, dass ein Tierchen sich besonders seltsam verhielt. Gängige Erziehungsmethoden konnte man nicht anwenden. BARBIE war so ein "spezieller Fall". Sie stellte unser Team, insbesondere mich, vor eine große Herausforderung. Sie wollte nicht mehr von uns weg! Eher wäre sie verhungert, als in ein neues Zuhause zu ziehen. 

Wir hatten es mehrfach versucht.

 

Sie ging, trotz liebevollem Umgang der jeweiligen neuen Besitzer, in einen regelrechten Hungerstreik, trank nichts mehr und stand überhaupt nicht mehr auf. Völlig apathisch trug ich sie – immer und immer wieder - aus den unterschiedlichsten Fahrzeugen und stufte sie im Laufe der Monate als schier unvermittelbar ein. Das, obwohl sie eine gutmütige ungefährliche Hündin war. Nun war es so, dass wir tierschutzmäßig dazu da waren, Tiere an gute Plätze zu vergeben - und grundsätzlich keine in unserem Eigentum behielten. Natürlich wuchsen einem die Schützlinge ans Herz. Das wurde von anderen Profis schon kritisiert: "Man solle dem Tier keinen Namen geben" - "Man solle Abstand wahren" - "Man solle das als Job sehen" etc. . Mir war das nie gelungen - während der vielen Jahre nicht. Sodass ich schon daran zweifelte, überhaupt geeignet für meine "Berufung" zu sein.

 

Es war viel besser für einen Hund ein Herrchen / Frauchen für sich alleine zu haben, war meine Einstellung. Eine Unterbringung auf unserer Anlage konnte nur ein vorübergehendes Zuhause sein. Alle im Team gaben sich natürlich Mühe, dass es den Tierchen in dieser Zeit bestmöglich ging. Jedoch ersetzte unser Haus niemals ein echtes Zuhause. Organisationen, welche vermittelbare Tiere regelrecht horteten, fand ich nicht in Ordnung. Manche Tierpfleger verkündeten, aus charakterlichen Gründen, mit geblähter Brust, dass "NUR SIE" mit dem Tier umgehen könnten bzw. das Tier "NUR SIE" liebt. Das ist unsinnig und eines Praktikers nicht würdig.  Ein Hund sollte jedem Menschen trauen und halbwegs zum Begleithund ausgebildet sein. Ein guter Tierbetreuer ist überhaupt NICHT stolz, wenn ein Tierchen sich zu sehr an ihn bindet bzw. bei anderen „fremdelt“. Die Aufgabe ist, ein gutes neues Zuhause für JEDES Tierchen zu finden. Das kann es nur dann, wenn es nicht allzu scheu ist.

 

Eine gute Tierpension wird auch immer was im Tierschutz bewegen

 

Wenn es unsere finanziellen Mittel erlaubten, hatten wir immer wieder Mal, in der „Vor- oder Nachsaison der Tierpension,10 – 15 Hunde auf einmal aufgenommen. Warum gleich so viele? Damit die Fahrtkosten sich rechnen und weniger Schreibarbeit entsteht. Der Nachteil bei den ausländischen Hunden war, dass man kaum etwas von der Vorgeschichte wusste. Alter, Größe, Gewicht waren meist geschätzt und der Abgabegrund oder die Umstände des Fundes unbekannt. Wenn viele Hunde ankamen, war das für die Tierbetreuer Stress pur. Die Transporteure der Hunde starteten zwar frühmorgens, aber hingen meist an der Grenze fest. Eine Ankunft um Mitternacht oder später war üblich. Aufgeregte Hunde waren in der Nacht aus den Transportboxen zu holen, mangels Leinenführigkeit mussten auch schwere Hunde ins Haus getragen werden, Chip auslesen, Papiere bearbeiten, wiegen, messen, baden, trocknen, ins Rudel integrieren. Die Tierbetreuer waren in der Nacht naturgemäß schläfrig und die Hunde durch die lange Reise unentspannt.

 

In den drauffolgenden Tagen wurde fotografiert und gefilmt. Nach und nach fanden wir für so alle Hunde feine Plätze. Mit diesem Wissen über meine persönlichen Gedanken zur Tiervergabe, gebe ich gerne tiefe Einblicke in meinen Job. 

 

Alle wurden vergeben – bis auf – BARBIE. Um sie „vermittelbar“ zu bekommen, durfte ich mich wesentlich mehr mit ihr beschäftigen. BARBIE war eine waschechte Ungarin und entstammte einem dortigen Zwinger. Sie war eine ängstliche, gutmütige Mischlingshündin. Eine hübsche, langhaarige, etwa 3-jährige Dame in Tricolor-Färbung, 25 Kilo schwer und ein Mix zwischen Collie und irgendwas Undefinierbarem.

 

BARBIE war leider extrem scheu. An der Leine rastete sie völlig aus - biss sich selbst blutig in die Zunge - versuchte Karabiner zu öffnen - hing mit beiden Pfoten im Halsband etc. Hob ich sie hoch und setzte sie wieder auf den Boden - das gleiche. Sie kam nicht auf ein Rufen = man musste sie mit Stange fangen. Sie wirkte wie ein bockendes Rodeo-Pferd. Leckerchen nahm sie anfangs gar nicht und später nur heimlich alleine. In ein paar Tagen hatte sie es aber schon halbwegs verstanden liegen zu bleiben, wenn man beim Fangen "SCHHHHHHHH" säuselte und ein ruhiges Handzeichen gab. Nach einigen Wochen Aufenthalt und Vertrauen zu mir, fing ich mit dem Training an.

 

Kopie aus meinem Tagebuch (deshalb in Gegenwartsform geschrieben):

 

Training 1. Tag: Heute habe ich mich BARBIE intensiv angenommen. Ohne Leine geht sie max. 2 Meter weg von mir und folgt überall hin. Kommt ein fremder Mensch ... nimmt sie, auch in meinem Beisein, nicht Mal das leckerste Nassfutter. Verschwindet der Unbekannte, ist die Welt wieder in Ordnung. Kommt ein weiterer Hund dazu - wird es noch entspannter. Sie ist völlig locker, spielt lustig und fetzt über die großen Wiesen der Anlage. Sie frisst und trinkt, solange sie die Leine nicht sieht! Sieht sie diese - setzt sie sich stocksteif hin und will gar keinen Schritt gehen – selbst anderer Hund hilft hier nichts. Versteckt man die Leine, ist alles OK. Macht man ihr die Leine um und lässt man diese los geht sie einem, nach 15 Minuten, mit Leine (die am Gras hinterher schleift) nach. Kaum nimmt man im Gehen die Leine vom Boden auf - geht sie keinen Schritt mehr. An der Leine nimmt sie weder Futter noch Wasser. Sieht sie einen Fremden - das gleiche. SOWAS ! Mein persönliches Ziel ist, ich gehe mit ihr in 10 Tagen in ein Gasthaus = Autofahrt samt Leine. Ich denke positiv: Wir schaffen das! Hmmm, ein besonders „charaktervolles“ Hundchen!

 

Training 2. Tag:  BARBIE und die Leinenphobie - nächster Akt. Es ist mir egal, wenn nun andere Hundetrainer mich ob meiner "unorthodoxen Erziehungsmethoden" in der Luft zerreißen. Ich arbeite nach Bauchgefühl. Dieses sagte mir heute: Wir tun erstmal gar nichts! Ich habe im Rudel mein sonntägliches Buch weitergelesen ..... wir haben gemeinsam die Außenanlage gereinigt .... bei den Katzen Ordnung gemacht ..... uns auf den Boden ins Gras gelegt - Bauch gekrault bzw. Hand geschleckt .... wieder weitergelesen. Gemütlicher Sonntag.  Nachmittags hole ich die "SUPER-SCHRECKLICHE LEINE!". Sobald sie die Leine auch nur sieht, wird sie zum unglücklichsten Hund der Welt. Jedoch - ihr werdet es nicht für möglich halten: Wir gingen 3/4 unserer Bachstraße (AN DER LEINE!) hin und her - und das mit mittelhoher Schwanzstellung. Sobald BARBIE jedoch nur den geringsten Widerstand spürt (auch wenn sie selbst auf die Leine steigt) - steht sie und es braucht Überredungskunst den "ACH-SO-WEITEN" Weg zurückzugehen. Bei einer Laufstrecke von regulären 8 Minuten, schafften wir es nach 2 Stunden wieder heim!  LEINE SOFORT RUNTER - SCHWANZ SOFORT RAUF! Viel weiteres Lob und Nassfutter. FELIX, mein Haushund, kommt dazu = lustiges über den Platz wetzen. Zurück ins Rudel an der Leine - völlig problemlos. Wäre allerdings ohne Leine noch viel besser gegangen ....

 

Training 3. Tag:  Das mit der Leine funktioniert heute schon viel besser! Ich bin sehr zufrieden. Wir haben die Bachstraße komplett begangen. Ich durfte BABI nur etwa 8 Mal zum Weitergehen überreden - das ist die Hälfte von gestern. Wir brauchten auch nur eine halbe Stunde.

 

Training 3. Tag / nachmittags:  Den heutigen Nachmittag betitle ich mit: " HUCH ! EIN FREMDER ! "oder "HUCH - ein fremdes Geräusch!". Dazu sei erwähnt, dass meine Schülerin nicht geräuschempfindlich ist - z. B. laute Rock´n Roll Musik im Tierbereich ist kein Problem. Uns begegnete am Ende (oder Anfang - je nachdem wie man es sieht) unserer Exkursion in unbekannte Welten doch glatt ein unbekannter Fußgänger (mit etwa 15 m Abstand). Es war schrecklich! Und dann kam man heim und in unserem Haus stand ein anderer Mensch aus dem Team! HUCH !!! Leinegehen mit einem "NICHT-GANZ-SO-FREMDEN" (meinem Ehemann) ist das reinste Desaster = funktioniert überhaupt nicht. Leinenführer sowie Leinengänger tun einem beim Zusehen gleichermaßen leid. Mit mir geht sie ganz brav - mit Rüdiger gar nicht. Leckerchen nimmt BARBIE in dieser "hochgradigen Gefahrensituation" selbstverständlich nicht. Aber was Positives: Sie befolgt schon ansatzweise die Kommandos "SITZ" und "PLATZ" und kommt freudig, wenn ich sie rufe. Das alles natürlich (noch !) - OHNE Leine !

 

Training 4. Tag:  Heute haut BABI das allererste Mal nicht ab, als sie die Leine sieht. Ich kann sie in ihrem Rudel anleinen. Kein Hinterherziehen mehr beim Rausgehen! Die Leine hängt locker durch! Und - es geschehen Wunder - sie wedelt erstmals beim Gehen an der Leine mit hocherhobenem Schwanz! Sie geht eher hinter mir - bestenfalls an der Seite - und zieht überhaupt nicht (= man kann sie mit dem kleinen Finger führen) - das ist doch wirklich positiv. Es dauert nicht lange und der Schwanz geht wieder runter. Ein "HUCH" in Form eines unbekannten Geräusches (irgendjemand dürfte eine Laster-Tür geschlossen haben) begegnet uns. So - keine hundelebensbedrohliche Lage festgestellt = Schwanz wieder rauf es geht weiter. Ab ans Anbinden und ich entferne mich 20 Meter. Allerarges HUCH – sie spielt wieder Rodeopferd, sobald ich auch nur 5 Schritte von ihr weg gehe. Hmmm …. Hunde müssen sowas im Alltag können, deswegen muss sie es erlernen. Es ist doch auch wirklich nichts dabei ….

 

Training 4. Tag /  nachmittags:  Mehrere "HUCH" sind uns begegnet. Ein fremdes Geräusch beim Spaziergang. Ganz arg war das HUCH mit dem hundefreundlichen Maler, der einfach streichelte - weiteres HUCH von jemandem, der ein Foto von ihr machte und sie ansprach. HUCH, ein Spielgefährte wird von seiner Besitzerin abgeholt und die Besitzerin sagt etwas! HALB-HUCH = Rüdiger fährt weg und kommt wieder. Neben dem Verfestigen des bereits Erlernten steht heute das Einsteigen in ein Auto auf dem Programm. FELIX, mein eigener Hund, macht es vor - ich krabbele auch ins Auto - und letztendlich auch BARBIE. Solange ich im Auto bin, kann man die Klappe schließen. Ohne mich geht es noch nicht. Wir müssen das Kommando "Platz" noch besser üben, dann kann man auch bestimmt die Autotür schließen. Beim Einrudeln geht BARBIE erstmals dominant-griffig auf die Artgenossen los, was ich natürlich nicht durchgehen lasse. Ich bin mit den heutigen Ergebnissen unseres Trainings sehr zufrieden. Alles auf einmal geht halt nicht.

 

Training 5. Tag:  Motto "Auffrischung des Erlernten"

  • Anleinen in Gruppe und rausgehen - sehr gut
  • Spazierengehen mit mir - wedelnd - sie markiert bereits - geht zu weit hinter mir - gut
  • "SITZ" mit rundherumgehen - naja
  • "PLATZ" und liegen bleiben -naja
  • Kommen wenn ich rufe - gut
  • Zurück in Gruppe - sehr gut

Auto einsteigen & fremde "HUCHS" ersparen wir uns heute. BARBIE ist völlig erschöpft! Jetzt geht nichts mehr. Ein guter Hundetrainer schafft es grundsätzlich binnen zwölf Tagen einen Hund so auszubilden, dass dieser annähernd Begleithund-Reife hat. Sollte ich bei BARBIE das Gefühl haben, dass sie nicht so weit ist, dann stufe ich sie als fast unvermittelbares Patentier ein. Es wird dann trotzdem weitergeübt, jedoch durch unsere Spendenkasse geschaut, dass die laufenden Kosten gedeckt werden. Eine diskutierbare Richtlinie, was ein vernünftiger Begleiter eines Menschen können sollte, findet man in der Prüfungsordnung div. Hundeverbände (z.B. BGH1).

 

Training 6. Tag:  Das heutige Motto ist: "Auffrischung des Erlernten". Weniger Fotos werden gemacht - dafür ein Haarzopf bei der Hundetrainerin. Zopf bedeutet keinerlei Ablenkung – volle Konzentration. In dieser Situation grüße ich nicht mal Nachbarn, sondern achte akribisch auf das Verhalten des Schülers. Wir arbeiten genauer und sitzen / liegen nicht irgendwie, sondern exakt links und grade. Auch gehen wir ordentlich am Bein mit einer Schmerzgrenze von 20 cm.

 

BARBIE hat weitere Baustellen. Sie frisst super, verteilt auf zwei Mahlzeiten, ihre komplette Ration. Sie ist weder zu dick noch zu dünn. Jedoch frisst sie eigenartig = nicht mit den anderen. Egal, wie lange das Futter steht und welches Futter es gibt. Sie liebt die Handfütterung. BARBIE kriecht unter meinen Arm und frisst am allerbesten aus der Hand. Ich muss das korrigieren. WAS FÜR EIN UNMÖGLICHES TIERCHEN ! All diejenigen, die nun meinen "irgendwann wird BARBIE schon fressen, wenn sie Hunger hat" - sei gesagt: Das wird sie derzeit garantiert nicht! BARBIE ist sehr speziell. Zu denen, die mich nicht kennen: NEIN - Ich bin kein unerfahrener antiautoritärer Tierschützer, der Hunde verhätschelt. JA - Ich liebe Tiere (insbesondere Hunde) und bin erfahrener Praktiker. BARBIE frisst anders nicht. Wir haben es mehrfach versucht.

 

Training 7. Tag:  Einige "HUCH" sind uns heute begegnet. BARBIE fürchtet sich grundsätzlich vor Menschen aller Art - auch vor Kindern. Ein lieber Kunde meiner Tierpension bietet sich unverhofft zu einem Leinengang an. Ich konnte meinen Augen nicht trauen - BARBIE geht mit diesem, ihr völlig fremden, Menschen und dessen eigenem Hund spazieren (halbhohe Schwanzstellung). Auch zu seiner Ehefrau ist sie zugänglich. Sie fährt sogar eine kleine Runde in einem fremden Auto - UNGLAUBLICH ! Ich freue mich. Es scheint so, als spürt sie eine Art Energie, die von dem einzelnen Menschen ausgeht und ob dieser gerecht mit ihr umgeht. Sie nahm sogar von ihm einen Löffel Nassfutter.

 

Eine neue Marotte von BARBIE ist eine Art von "Eifersucht"!  Sie zeigte das Verhalten erstmalig am 4. Tag unseres Trainings. Streichele ich einen anderen Hund ihrer Gruppe, dann wird sie ärgerlich. Sie fletscht gegenüber dem Artgenossen die Zähne und knurrt böse. Sie beißt aber nicht. Natürlich lasse ich ihr das nicht durchgehen. Auf ein "NEIN" oder "SCH-TTT" hört sie auf. Jedoch - kaum beschäftigt man sich wieder mit dem anderen Hund - "eifert" sie wieder. Es ist fast so, als hätte sie die "Vertraute" am liebsten für sich alleine. Wir werden an diesem Fehlverhalten arbeiten.

 

Training 8. Tag:  Wir üben und üben! Habe dabei die Prüfungsordnung im Hinterkopf. Der Vorteil des perfekten Befolgens des Kommandos "PLATZ" wäre, dass sie angebunden werden könnte. Grob unperfekt ansatzweise (!) funktioniert es bereits. Das Ablegen selbst ist nicht die Herausforderung – sie legt sich sofort hin. Beim Weggehen des Hundeführers steht sie zwar nicht auf, aber krabbelt hinterher – und das schnell. Wenn BARBIE das Kommando „Platz“ beherrscht, hoffe ich, dass sie dann dadurch auch irgendwann beim Einsteigen in ein Auto liegen bleibt. Ich merke selbst, in welcher hoffnungsvollen Weise ich schreibe ....

 

Training 8. Tag / kompletter Nachmittag = FÜNF Stunden (!):  Der Tierfreund, der mit BARBIE und seinem eigenen Hund bereits spazieren ging, hat sich bereit erklärt, BARBIE versuchsweise mitzunehmen. Leinengang samt Autofahrt mit in das Zuhause der "Nun-nicht-mehr-ganz so-Fremden" samt deren Haushund. Wir bleiben in telefonischem Kontakt. HURRA ! Sie trinkt! Sie frisst!  Sie steht auf! Sie legt sich selbständig zu beiden "Etwas-Vertrauten". Wunderbar - es ist doch nicht "Hopfen & Malz" verloren. Es müssen wohl einfach nur die - aus BARBIE´s Sicht - "richtigen" Menschen sein. Leider finden sich solche selten. Wer gut mit Hunden umgehen kann, nimmt sich meist einen Leistungshund für die Arbeit in einem Hundeverein. Problemhunde sind schwer vermittelbar. Ein Problemhund wird BARBIE wohl immer bleiben - da hilft das beste Ausbilden nichts. Sie ist eben charaktervoll. Ein toller spannender Hund. Ich habe mir den Stichtag (Training Tag 12) notiert, an welchem BARBIE ggf. aus der aktiven Vermittlung genommen wird. Dann sollte sie zu einem eher unvermittelbaren Patentier deklariert werden. Das möchte ich vermeiden. Ein paar Trainingstage haben wir ja noch.

 

Training 9. Tag:  Heute BARBIE-PAUSE! Wir lassen das Erlebte wirken! Bin mir klar darüber, dass wir nur noch vier Tage zum Entscheid haben - jedoch braucht meine Maus nun Ruhe um alles geistig zu verarbeiten. Ich bin mir sicher, dass unsere Übungen morgen besser absolviert werden, wenn wir heute Mal aussetzen.

 

Training 10. Tag:  Nicht nur die Grundkommandos sind wichtig, sondern auch anderes seltsames Verhalten. Dazu gehört: Entwöhnung der Handfütterung! Das kann es doch nicht sein, dass dieses seltsame Wesen nur in inniger Umarmung mit Betreuerin frisst! Fühlt sie sich geborgen, frisst sie alles auf - morgens sowie nachmittags. Ohne Liebhaben - kein Futtern - nicht ein einziges Körnchen! Heute begannen wir mit unserer Umschlingung und während sie fraß wurde sie allein gelassen und das Außengehege gesäubert. Gründlicher als nötig. Es geht, wenn man 20 Sekunden weg geht - BARBIE frisst weiter - jedoch nur solange man dicht beim Essenstisch bleibt. Ein Meter sind ihre "Toleranzgrenze".

 

Training 10. Tag / nachmittags: HURRA ! Der "Nicht-mehr-ganz-so-Fremde" hat sich soeben angesagt und nimmt BARBIE heute ehrenamtlich nochmals zum Spaziergang etc. über das Wochenende mit. Was Besseres kann ihr gar nicht passieren! Es werden bestimmt wieder viele freundliche "HUCH" auftauchen - und das in Gegenwart eines "Halb-Vertrauten" der super mit ihr umgehen kann! Ich erhielt ein lustiges Video: Sein eigener toller Begleithund und unser Problemhund BARBIE spazieren gemeinsam vorne weg - beide (!) Hunde stehen wie angewurzelt bei "STEH". Sie orientiert sich stark an dem anderen sehr braven Hund - was überhaupt kein Fehler ist. BARBIE kommt, nach den zwei Tagen wieder retour, schleckt zum Abschied bei "halbvertrauter Ersatz-Betreuerin" die Hand. Nun schläft sie! Dürfte für sie anstrengend gewesen sein! Weiters haben wir dann noch etwas mehr Zeit zur „Patentier-Einstufung“, weil ja kein Datum, sondern nur die reinen Trainingstage zählen.

 

Training 11. Tag:  Ein Erfolgserlebnis: Umarmungsloses gemeinsames vernünftiges Vollfuttern ! - zu fünft in der Gruppe - Futterschüssel am Boden - BARBIE HAT ES GESCHAFFT, alleine zu fressen. Beim heutigen Schlechtwettertraining stellt sich heraus, dass BARBIE kein Regen- und Kältehund ist. Nach bereits zwei Minuten sieht sie mich vorwurfsvoll und ungläubig an: "Müssen wir wirklich?" Das Kommando "SITZ" wird wunderbar befolgt. Auch die Leinenführigkeit ist klasse. "BLEIB" auch kein Problem. Jedoch "PLATZ" ist völlig "igitt". Nachdem ich mich selber frage, ob ich mich ins kalte, nasse Gras legen wollen würde, beenden wir diese Übung. BRRRRRR  ... es fing dann auch noch an zu schneien. Was die Begleithund-Reife angeht, bin ich mit ihr zufrieden und wir brauchen nicht im Schnee zu stapfen.

 

Training 12. Tag:  "Nicht-mehr-so-Fremder" nimmt BARBIE mit. Heute stehen neben Spaziergang auch der Besuch eines Altenheimes und Liftfahren am Programm. Das könnte für alle Beteiligten spannend werden und ich stehe telefonisch in Bereitschaft. Alles funktioniert sehrt gut. BARBIE lässt sich von den alten Damen und Herren streicheln und auch das Lift-Fahren ist keine "Herausforderung". Nachmittags kommt sie zurück und ich übe nochmals mit ihr.

 

Heute ist der Tag der Entscheidung: Ich habe BARBIE zwölf Tage trainiert. Das komplette Verhalten dieses lieben Tierchens wurde von anderen und mir nun neutral betrachtet. Bei Fremden fremdelt sie nach wie vor etwas. Bei dominanteren Personen fürchtet sie sich und würde wohl auch keine Kommandos befolgen. Entscheidung ist: "HALBES PATENTIER". Es gibt nicht nur ein SCHWARZ oder WEISS. BARBIE ist durchaus irgendwann vermittelbar - jedoch kann es sein, dass sie noch ein paar Monate auf der Anlage bleibt. Schön wäre es, wenn sich hier Sponsoren fänden, die wenigstens einen Teil der Futterkosten übernehmen.

 

 Wir suchten für BARBIE ein Zuhause

 

Ich wechsle wieder in die Vergangenheitsform. Ich wollte nicht erleben, dass das nächste Zuhause nicht mit BARBIE zurechtkommt. Es würde wohl ein ganz besonderer Mensch sein, der sie aufnimmt. Wer BARBIE möchte braucht Geduld und die richtige innerliche ruhige Energie. Dazu veröffentlichte ich unser komplettes Training – machte in der Zeit über 200 Fotos und schrieb alles, was ich meinte dazu. BARBIE war optisch eine schöne Hündin und so fanden sich viele Interessenten. Ich bestand darauf, dass alle den ellenlangen Vergabetext lesen und sendete dazu per Mail einen Link. In den allermeisten Fällen kam es zu keiner Besichtigung.

 

Unsere fehlgeschlagenen Versuche

 

Unser erstes Zuhause: Eine liebe Familie besichtigte BARBIE und nahm sie nach dem zweiten Besuch mit. Ich hatte ein gutes Gefühl. Im Laufe der vielen Wochen Aufenthalt waren Fremde für meine Schülerin BARBIE kein Problem mehr. Sie verlor immer mehr die Scheuheit und entpuppte sich als sehr kinderfreundlich. Nun lebte in dem neuen Zuhause ein vorsichtiges wohlerzogenes liebes Mädchen, Haus mit Garten waren vorhanden und kein weiteres Haustier. Ich bot an, in telefonischem Kontakt zu bleiben. Bereits am zweiten Tag kam ein Anruf: BARBIE frisst nicht. Das mitgegebene Futter sah sie überhaupt nicht an und nahm noch nicht mal ein Würstchen. Ich meinte, wenn sie Hunger hat, wird sie schon fressen – man sollte wirklich nicht zu sehr mit ihr herum-tüteln. Ich hatte BARBIE letztens ganz normal behandelt und war die Hündin auch nicht heikel. Am dritten Tag machte ich mir denn dann schon Sorgen, als sie immer noch nichts annahm und auch das Trinken verweigerte. Sie würde überhaupt nicht mehr aufstehen und hätte sich in einem Eck verkrochen. Am vierten Tag sahen die neuen Besitzer ein, dass das wohl keinen Sinn machte und brachten BARBIE zurück.

 

Das Auto fuhr auf den Hof. Wo ist BARBIE? Sie lag zusammengekauert auf der Rückbank des Autos und wirkte völlig apathisch. So hatte ich sie noch nie gesehen. Ich trug meine Maus ins Haus, wir rückabwickelten den Vertrag und sie war wieder in meinem Eigentum. Kaum war das Auto vom Hof gefahren, BARBIE in dem gewohnten Bereich und mit mir alleine, änderte sich ihr Verhalten schlagartig. Sie fraß (umarmungslos) eine volle Schüssel auf und trank Unmengen. Der Schwanz fröhlich wedelnd und alles war wieder in Ordnung. Ich sendete den besorgten Ex-Besitzern gleich ein Video. Die nächsten Tage verliefen komplett problemlos.   

 

Es musste ein/e Hundehalter/in gefunden werden – die/der ab und an hier vorbeikommt um BARBIE´s Vertrauen zu gewinnen. Erst dann könnte sie dort einziehen. Wir haben hier auch viel "einfachere" Hunde. Diese können sofort unkompliziert mitgenommen werden. Nicht aber BARBIE.

 

Unser zweites Zuhause:  Zu dem ganzen Trainingstext kamen noch weitere Zeilen von unserem fehlgeschlagenen Versuch in die Veröffentlichung. Es ist wichtig, dass Interessenten Bescheid wissen, was passieren könnte. Wieder fand sich ein Paar. Dieses Mal ohne Kind – aber mit Hund. Sie würden BARBIE gerne als Zweithund dazu nehmen. Sie könnten gut mit Hunden umgehen und solch ein Desaster, wie beim ersten Versuch, würde ihnen bestimmt nicht passieren. Sie kamen mehrmals mit ihrem eigenen Hund, und nahmen BARBIE mit. Schon folgten die Anrufe. BARBIE frisst und trinkt nicht – sie steht nicht mehr auf. Ein Hundetrainer hätte sie besehen und gemeint, der Hund wäre völlig seltsam. OK – gar nicht weiter versuchen. Wir nahmen BARBIE wieder zurück bzw. ich trug das Häufchen Elend wieder zu uns ins Haus. Kaum war sie da, war die Hundewelt wieder völlig in Ordnung.

 

Nachdem die Maus nun von anderer Seite als "neurotisch" eingestuft (braucht einen "Hundeflüsterer" etc. etc. etc.) von mir zurückgenommen wurde, durfte sie sich nach dem - aus ihrer Sicht - "ach-so-fürchterlichen" Erlebnis (VERGEBEN WORDEN ZU SEIN) ein paar Tage erholen. Ganz offen: Ich hatte schon die Hoffnung aufgegeben. Wie sollte ich was trainieren, was sich bei uns gar nicht zeigte ?  Sollte ich mich dazu entscheiden, dass dieser liebe "charaktervolle" Hund als mein eigener Hund bleiben dürfe, könnte niemand behaupten, wir hätten uns keine Mühe gegeben, BARBIE zu vermitteln.  Sie wollte einfach nicht weg ! Ich war NICHT stolz darauf, dass dieser Hund sich zu sehr an seine Betreuer gebunden hatte. Was hatte ich falsch gemacht? Wir waren zu der Zeit die einzigen, wo BARBIE leben wollte.  

 

Dazu kam noch: Wer BARBIE´s Tierhalter sein möchte, musste sich darüber im Klaren sein, dass in dieser Hündin auch ein "führungsbegabter Wolf" schlummert. Gegenüber ihren Artgenossen war BARBIE eher dominant, verspielt, superverträglich und überhaupt nicht ängstlich. BARBIE führte nach mir das Rudel. Wer dachte, mit dem beim unbekannten Menschen, schlecht fressenden "ach-so-armen Hund" ewig herumsäuseln zu können, läge völlig falsch. Damit würde BARBIE das menschliche Rudel übernehmen - und doch vertrug sie wenig Druck. Wir brauchten hier jemanden, der diesen "Tanz auf dem Drahtseil" beherrscht. Unter  konsequenter strenger liebevoller Führung  würde diese kluge Hündin eine wunderbare Begleiterin bleiben.

 

Es folgten noch zwei weitere Versuche mit ähnlichem Ausgang. Meine Texte wurden immer länger und länger. Ich glaubte nicht mehr wirklich an eine Vergabe und längst war aus BARBIE ein „Patenhund“ geworden.

 

Endlich Zuhause !

 

Das endgültige Zuhause: Ein älteres hundeerfahrenes Ehepaar zeigte Interesse an BARBIE. Nach deren Lesung des Trainings- und des ganzen Zusatztextes (das waren mittlerer Weile insgesamt neun vollbeschriebene DIN-A-4 Seiten) fand ein etwa zweistündiges Telefonat statt. Ich schilderte all meine Bedenken. Sie wollten es trotzdem zur Probe versuchen. Haus mit kleinem Garten, kein weiterer Hund, keine Kinder (nur einige Enkelkinder) und – da beide in Pension waren – viel Zeit und sie wären geduldige Menschen. Wir vereinbarten einen Besichtigungstermin und sie nahmen BARBIE gleich mit. Wir vereinbarten, dass sie sich spätestens nach drei Tagen bei mir melden.

 

Wozu erst wieder mehrere Besuche? Wenn es passt dann passt es – und wenn nicht, dann würde ich die nochmalige Katastrophe sowieso in den nächsten Tagen erfahren. 1. Tag – kein Anruf …. 2. Tag - kein Anruf. Obwohl mir manchmal intensiv danach wäre, beim neuen Zuhause selbst anzurufen, zwang ich mich (grundsätzlich) professionell das NICHT zu tun. Wenn ich aber angerufen wurde, konnte das Gespräch schon Mal länger dauern. 3. Tag - Endlich! Das erlösende Telefonat: Es gäbe von Anfang an keinerlei Probleme mit BARBIE. Sie frisst, trinkt und läuft fröhlich im Garten. Sie wären begeistert, wie folgsam sie ist. Es wäre fast so, als wäre sie immer schon da gewesen. Die Enkelkinder waren auch schon auf Besuch. Sie wären überglücklich, einen so lieben Hund bekommen zu haben. Das Paar sendete mir Fotos von BARBIE, wo man sah, wie sie lustig durch den kleinen Garten rannte, mit Kindern spielte und beim Spazierengehen in den Bergen an der Leine. Einige Wochen später bekam ich weitere aussagekräftige Bilder einer glücklichen Hündin.

 

Ein Experte hat wenig Emotionen – der freut sich nicht – der ärgert sich nicht – der hat Abstand – der macht stur seinen Job. Wo war meine Professionalität? Ich heulte wie ein Schloss-Hund. Es waren dicke Freudentränen. BARBIE hatte endlich ein Zuhause ….. und das für immer. Ich wusste, dass sie den Pensionisten vertraute und ihnen auch immer vertrauen würde. Sie war der „charaktervollste“ Hund, der mir je unterkam.

Linda Ann Pieper